"Die Schule kann vom Kindergarten lernen"
Deutschlands Politiker überbieten sich über Parteigrenzen hinweg mit Appellen über die Bedeutung guter Bildung. Die große Koalition verspricht viel für Grundschüler, vom Bundesprogramm für Brennpunktschulen über den milliardenschweren Digitalisierungspakt für Schulen bis hin zur Ganztagsgarantie. Wir fragen Andreas Schleicher von der OECD: Wie steht es um den frühkindlichen Bereich?

Herr Schleicher, was in der aktuellen politischen Debatte auffällt ist, dass die frühkindliche Bildung kaum vorkommt. Müsste nicht gerade dort einiges im Hinblick auf Qualitätssicherung oder Finanzierung in Bewegung kommen?
Was die quantitative Expansion angeht, ist viel passiert – zumindest bei den über Zwei- und Dreijährigen. Die Problematik liegt eher darin, dass dahinter im Wesentlichen eine Betreuungsidee steht. Das Bildungskonzept oder der Bildungsauftrag, der die treibende Idee in den 2000er Jahren war, kann man darin noch nicht wirklich erkennen.
Woran machen Sie das fest?
Schauen Sie sich nur an, wie die Fachkräfte im frühkindlichen Bereich bezahlt werden im Vergleich zu denen an Schulen. Da gibt es eine große Diskrepanz. Auch die Qualifikation ist ein guter Indikator. Wenn wir unsere Kinder in die Schule schicken, wissen wir, dass die Lehrkräfte gut ausgebildet und bezahlt sind. Auch gibt es ein Curriculum, über das wir erfahren, was unsere Kinder im Grunde lernen. All das gibt es im frühkindlichen Bereich nicht. Das sind eher Einrichtungen, die auf Vertrauen basieren und wegen ihrer kommunalen Trägerschaft stark lokal geprägt sind. Die Idee des lebenslangen Lernens, dass Kinder nicht irgendwann schulreif sind, sondern schon im ganz frühen Altersstufen sehr viel lernen, gerade auch wenn es um soziale und emotionale Kompetenzen geht, das ist nicht wirklich ins Bewusstsein vorgedrungen.
Das liegt womöglich daran, dass viele eine Verschulung der Kitas fürchten.
Dem stimme ich zu. Es wäre tatsächlich ein großer Fehler, wenn wir Schule immer weiter nach unten verlagern. Das ist auch gar nicht die Idee. Es geht vielmehr darum zu überlegen, wie wir Kinder jeder Altersstufe entwicklungsgerecht fördern können. Das Wort Schulreife zeugt doch bereits von einem falschen Ansatz. Die Frage muss doch sein: Was können wir für Kinder tun? In diesem Punkt kann die Schule vom Kindergarten mindestens genauso viel lernen wie umgekehrt.
Wie würden Sie denn gute frühe Bildung definieren, was muss sie leisten?
Es sollte eine Umgebung geschaffen werden, in der Kinder aus ganz unterschiedlichen Kontexten ihr Potenzial voll entwickeln können, damit wir erkennen, was in jedem einzelnen steckt. Für all das braucht es sehr viel Kreativität und Fachkompetenz vor Ort von den Fachkräften.
Und viel Geld...
Absolut. Wir haben Diskussionen über Bafög oder Studiengebühren, damit jeder eine Hochschule besuchen kann. Die kleinen Kinder aber müssen für den Kita-Besuch zahlen. Darüber wird nicht einmal gesprochen, sondern nur davon ob jedes Kind einen Kita-Platz bekommt. Schon mit Blick auf die Bildungsgerechtigkeit, kann das aber nur der Anfang sein. Die ungleiche Chancenverteilung beginnt viel zu früh. Vor allem Kitas sind zudem die ersten Orte, an denen Kinder die Vielfalt der Gesellschaft erleben.
Wie steht Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern da?
In vielen Ländern ist das frühe Bildungsangebot verlässlicher, stärker institutionalisiert. Selbst England, das vor zehn Jahren noch weit hinter Deutschland lag, was die materielle und personelle Ausstattung angeht, hat sehr viel gemacht und uns überholt. Da werden im Primar- und Grundschulbereich zum Beispiel gleiche Gehälter gezahlt. Das Geld ist nur ein Indikator, aber er drückt aus, was uns die frühkindliche Bildung wert ist. In Deutschland steht die Pyramide auf dem Kopf. Während die Ausgaben für die Sekundarstufe zwei überdurchschnittlich sind, liegen sie für den frühkindlichen Bereich und für die Grundschule unter dem Durchschnitt.
Die OECD hat im vergangenen Jahr erstmals den frühkindlichen Bildungsbereich untersucht und plant, ähnlich wie für die Pisa-Studie, künftig regelmäßig Daten zu erheben. Wieso?
Wir müssen ein viel stärkeres Bewusstsein dafür entwickeln, dass frühkindliche Bildung ein entscheidendes Angebot für die Entwicklung von Kindern ist. Die Gesetzgeber werden das Thema aber nur angehen, wenn es dafür auch verlässliche Indikatoren gibt. Im Unterschied zu Pisa geht es bei diesen Studien allerdings nicht um Fachwissen, sondern um soziale und emotionale Kompetenzen.
Wie kann aus ihrer Sicht die Beschäftigung mit naturwissenschaftlich-technischen Themen die frühe Bildung bereichern?
Gerade wenn es um Selbstwirksamkeit geht, bieten die MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) das ideale Umfeld. Da können Kinder ihrer Neugier freien Lauf lassen, können Fragen stellen, Natur erfahren, kausale Zusammenhänge entdecken – all das sind grundlegende Fähigkeiten, die weit über die Naturwissenschaften hinausgehen. Ich sehe diese Forschungsfelder als wunderbares Instrument, diese Fähigkeiten zu entwickeln.
Magazin "Forscht mit!"

Dieser Artikel stammt aus Ausgabe 2/2018 der Zeitschrift "Forscht mit!". Alle Kitas, Horte und Grundschulen, die beim "Haus der kleinen Forscher" mitmachen, bekommen sie kostenlos zugeschickt. Im Heft finden Sie immer wieder neue Ideen, um gemeinsam mit Kindern zu forschen und zu experimentieren. Ausgabe 2/2018 hat das Titelthema "Bewegung".
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